«Ein Grossteil der Angestellten kann im Juni wieder ins Büro zurückkehren» Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner berät den Bundesrat in der Corona-Krise. Er hat wenig Hoffnung, dass in diesem Jahr eine Rückkehr zur Normalität möglich ist. Aber wenigstens ein Ende des Home-Office zeichnet sich ab.

Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner berät den Bundesrat in der Corona-Krise. Er hat wenig Hoffnung, dass in diesem Jahr eine Rückkehr zur Normalität möglich ist. Aber wenigstens ein Ende des Home-Office zeichnet sich ab.

 

Veranstaltungen mit vielen Menschen wie das Zürcher Filmfestival wird es vorerst nicht geben. Selina Haberland

Herr Tanner, schauen wir zuerst in die Zukunft. Wir führen dieses Interview von Home-Office zu Home-Office – wird das für viele Beschäftigte in der Schweiz noch lange der Normalfall sein? 

Der Bund empfiehlt, dass alle, die das können, weiterhin im Home-Office arbeiten. Aber er schreibt es nicht vor. In diesem Bereich können wir pragmatisch sein: Wer unter der gegenwärtigen Situation leidet oder aufgrund der familiären Situation schlechte Bedingungen hat, kann eigentlich jetzt wieder an seinen Arbeitsplatz im Büro zurückkehren. Voraussetzung ist natürlich, dass er die grundlegenden Schutzmassnahmen dort einhalten kann.

Doch das würde bedeuten, dass die Trams und Züge in den Pendlerzeiten bald wieder voll sind.

Das will natürlich niemand, und deshalb sollen alle, die es mehr oder weniger problemlos realisieren können, weiterhin daheim arbeiten. Um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, plädiere ich dafür, eine Maskenpflicht für den öffentlichen Verkehr einzuführen.

Also muss der Grossteil der Beschäftigten dennoch damit rechnen, auch noch im Herbst von zu Hause zu arbeiten.

Nein, da reden wir von kürzeren Fristen. Wenn wir jetzt nicht überborden und die Schutzmassnahmen beachten, kann ein Grossteil der Angestellten im Juni wieder ins Büro zurückkehren.

Die Menschen sehnen sich nach Normalität. Wann bekommen wir diese zurück?

Ein weitgehend normales Leben ist bald möglich, einfach unter Einhaltung der Distanz- und Hygieneregeln.

Das meinen wir nicht mit Normalität. Dazu gehört, dass man ohne Bedenken seine Freunde umarmen oder an ein Konzert gehen kann – so wie es bis im Februar noch selbstverständlich war.

Ein Leben ohne Einschränkungen wird es erst geben, wenn die Herdenimmunität erreicht ist. Ich befürchte, Grossveranstaltungen sind ohne ausreichende Impfung nicht möglich.

Erfolgsmeldungen aus der Wissenschaft machen Hoffnung, dass wir schon in diesem Jahr einen solchen Impfstoff haben.

Da wäre ich nicht so optimistisch. Wenn Professor Martin Bachmann von der Universität Bern sagt, er beginne im Oktober mit dem Impfen, bedeutet dies, dass er dann mit den grossen klinischen Versuchen startet. Wenn alles sehr gut läuft, also keine Nebenwirkungen auftreten und der Impfstoff im rollenden Verfahren eingeführt wird, haben wir in 15 bis 18 Monaten eine Impfung – und vorher gibt es keine Fussballspiele mit Zuschauermassen und Konzerte.

Das bedeutet, es gibt frühestens im Sommer 2021 eine Rückkehr zur völligen Normalität?

Ja, das ist wahrscheinlich leider so.

Wie gross muss der Anteil der Geimpften in der Bevölkerung sein, damit eine Herdenimmunität erreicht ist?

So genau lässt sich das nicht sagen. Klar ist aber, dass es nicht reicht, wenn 60 bis 70 Prozent geimpft sind. Für einen völligen Schutz müssen die Menschen schützende Antikörper entwickeln. Weil dies nicht bei allen Geimpften der Fall ist, muss die Rate voraussichtlich höher liegen. Es bringt auch wenig, nur die Risikogruppen und das Gesundheitspersonal zu impfen, weil dann das Virus nicht verschwinden würde. Aber diese Gruppen müssen natürlich zuerst eine Impfung bekommen.

Es werden Forderungen nach einem Impfzwang aufkommen.

Das kann man in der Schweiz nicht durchsetzen. Die Behörden müssen auf die Vernunft und die Einsicht der Bürgerinnen und Bürger setzen.

Die Impfung ist noch Zukunftsmusik. Derzeit gibt es eine hitzige Diskussion darüber, ob der Lockdown überhaupt notwendig war. Neue Untersuchungen der ETH zeigen, dass die Reproduktionsrate R schon vor dem 16. März unter 1 lag. Schon damals hat also ein Infizierter weniger als eine Person angesteckt. Hätten also auch die zuerst eingeführten Hygiene- und Abstandsregeln ausgereicht?

Ich bin überzeugt: Ohne den Lockdown hätten wir jetzt nicht die erfreulich tiefe Ausbreitungsrate. Auch bei einer Reproduktionsrate von unter 1 gibt es noch Ansteckungen, erst über längere Zeit führt dies zum Verschwinden der Krankheit. Wer jetzt nur auf die Reproduktionsrate schielt und deshalb die Politik des Bundesrates kritisiert, ist falsch gewickelt. Zumal es sich um eine gemittelte Zahl für die ganze Schweiz handelt. Es existieren auch lokale Cluster mit viel höherer Übertragungsrate. Es gibt die bekannten Beispiele aus dem Tessin, aus Verbier oder aus Basel, wo Freikirchenmitglieder das Virus aus dem Elsass eingeschleppt haben. Von solchen Clustern aus kann sich das Virus dann rasch auch wieder ausbreiten.

Eine Art Glaubenskrieg ist um die Frage entbrannt, wie sinnvoll die Strategie der schwedischen Regierung ist, die bisher keinen Lockdown verordnet hat. Ist das vorbildlich oder brandgefährlich?

Wer das schwedische Modell verteufelt, hat es nicht genau studiert. Man setzt dort nicht einfach rücksichtslos auf Durchseuchung und Herdenimmunität, wie das Boris Johnson anfänglich in Grossbritannien propagiert hat. Die schwedische Regierung vertraut vielmehr sehr stark auf die Einsicht der Bevölkerung, dass sie sich an die Distanz- und Hygieneregeln hält. Diese Strategie kann man fahren.

Die Schweiz ist auch ein Land, das normalerweise ebenfalls stark auf das verantwortliche Handeln seiner Bürgerinnen und Bürger vertraut. Wieso haben wir dann nicht den schwedischen Weg gewählt?

Man kann natürlich diskutieren, ob wir nicht auch auf diese Variante hätten setzen sollen. Aber es ist eben auch so, dass wir individualistischer ticken als die Schweden und uns etwas weniger für das Gemeinwohl interessieren. Ich erinnere auch daran, dass zu Beginn der Krise einzelne Kantone Zahlenakrobatik betrieben und Anlässe mit vielen Besuchern zuliessen, die in anderen Kantonen schon verboten waren. Oder dass in Zürich vor dem Lockdown noch viele Leute draussen unterwegs waren. Das zeigte, dass wir wohl leider nicht bereit waren für den milderen schwedischen Weg, der grosse Eigenverantwortung voraussetzt.

Auch jetzt, wo es um die Lockerung geht, stellen viele Branchen ihre Partikularinteressen in den Vordergrund. Was würde es bedeuten, wenn alle Geschäfte am nächsten Montag wieder öffnen würden?

Man kann nach einem Lockdown nicht einfach plötzlich alle Schleusen öffnen. Wenn es dann nicht gut kommt und es einen zweiten Lockdown braucht, sind die Schäden für die Wirtschaft sehr, sehr viel grösser.

Aber die Situation ist für viele Betriebe existenzbedrohend, beispielsweise für die Restaurants.

Ja, das bestreitet niemand. Aber wir sollten auch ehrlich sein. Pro Gast muss ein Restaurateur mit vier Quadratmetern rechnen, wenn er die Abstandsregeln einhalten will. So haben vielleicht nur zehn oder zwanzig Gäste Platz. Kann man damit ein Restaurant überhaupt betreiben? Solche Fragen müssen wir zusammen erörtern. Es ist nicht die feine Art, mit Briefen an die fünf bürgerlichen Bundesräte Druck aufzubauen, wie das der Präsident von Gastrosuisse gemacht hat. Auch die Parteipräsidenten sollten nun nicht versuchen, sich auf Kosten der Regierung in einer schwierigen Situation zu profilieren. Jetzt ist ein Miteinander gefragt, nicht ein Neben- oder Gegeneinander.

Der Bundesrat will bis Anfang Juni einen Grossteil der Lockdown-Massnahmen lockern – und erntet dafür Kritik: Manchen geht es zu schnell, manchen zu langsam.

Der Bundesrat ist vorsichtig, und das ist sinnvoll. Es braucht ja nach jedem Schritt eine Phase, in der sich die Massnahmen evaluieren lassen. Und aufgrund dieser Erkenntnisse kann man den Prozess verlangsamen oder allenfalls auch beschleunigen. Da braucht es die konstruktive Mitarbeit aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sparten. Ein paar Wissenschafter, das Bundesamt für Gesundheit und der Bundesrat können ja unmöglich die Realitäten in allen Bereichen kennen.

Woran lässt sich denn der Erfolg oder Misserfolg einer Strategie genau bemessen?

Da kommt wieder die Reproduktionsrate ins Spiel: Wir können schauen, wie sie sich regional entwickelt, etwa im Tessin oder in der Genferseeregion. Wenn ein Infizierter wieder mehr als eine Person ansteckt, müssen wir die Schraube schnell anziehen, denn dann breitet sich das Virus erneut aus.

Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, jüngere Kinder, die die Abstandsvorschriften wohl nur schwerlich einhalten, zuerst in die Schule zu schicken?

Ja. Ich habe selber die verfügbare Literatur ausgewertet. Da gibt es klare Hinweise darauf, dass Kinder unter zehn Jahren zwar an Covid-19 erkranken können, selber das Virus aber kaum weitergeben – weder an andere Kinder noch an Erwachsene. Abschliessend lässt sich das noch nicht beurteilen, deshalb braucht es weiterhin Vorsichtsmassnahmen wie die Hygieneregeln oder den Verzicht auf Kontaktsportarten. Etwas anders sieht es bei den Teenagern und jungen Erwachsenen aus: Sie können wichtigere Überträger der Krankheit sein. Es ist deshalb sinnvoll, die Gymnasien und die Hochschulen noch geschlossen zu halten, zumal diese Schüler und Studenten auch besser aus der Ferne unterrichtet werden können.

Manche Forscher warnen vor einer zweiten, möglicherweise massiv schädlicheren Welle ab dem Herbst. Teilen Sie diese Befürchtungen?

Ich gehe davon aus, dass selbst in stark betroffenen Regionen nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung die Infektion oder die Krankheit bereits durchgemacht haben. Und selbst wenn, ist noch nicht klar, ob die Antikörperpositiven und Geheilten nun wirklich immun sind. Deshalb ist es sehr realistisch, dass es zu einer zweiten und dritten Welle kommt – in Japan ist das bereits der Fall. Weil wir aber weiterhin auf Schutzmassnahmen setzen, erwarte ich, dass diese Wellen nicht schlimmer werden als jene, die nun am Abflauen ist.

Wir haben bereits über Grossveranstaltungen gesprochen, auf die wir wohl noch lange verzichten müssen. Können wir wenigstens darauf hoffen, dass Treffen mit mehr als fünf Personen bald wieder möglich sind?

In einer ersten Phase müssen wir dieses Verbot sicher beibehalten. In einem nächsten Öffnungsschritt könnte man dann Treffen von Gruppen zulassen, die sich gut überblicken lassen. Das wären etwa 30 bis maximal 50 Personen.

Wer also im Juli einen runden Geburtstag mit der Familie und ein paar Freunden feiern will, kann mit der Planung anfangen?

Da wäre ich vorsichtig. Wir müssen schauen, wie die erste Phase der Öffnung verläuft. Es bleibt uns derzeit nichts anderes übrig, als flexibel zu bleiben. Zur Not muss man dann halt das Fest eine Woche vor dem geplanten Termin absagen.

Die Überschaubarkeit von Gruppen ist vor allem deshalb wichtig, um bei einer Infektion herausfinden zu können, wer wen angesteckt hat. Den gleichen Zweck erfüllen auch Smartphone-Apps, die derzeit entwickelt werden und grosse Hoffnungen wecken. Zu Recht?

Eine solche App, die ja ab dem 11. Mai zur Verfügung stehen soll, wäre tatsächlich wertvoll. Das Contact-Tracing gehört zu den drei Massnahmen, mit denen wir die Pandemie in den Griff bekommen: Testen, Contact-Tracing und Isolation der Infizierten, das ist die Sequenz, die konsequent durchgezogen werden muss.

Das funktioniert aber nur, wenn viele Leute die App installieren.

Ja, etwa zwei Drittel müssten freiwillig mitmachen. Ich betone: freiwillig. Das ist aus Gründen des Datenschutzes nötig und richtig. Die ewigen Kritiker und Besserwisser werden wir ohnehin nicht erreichen. Doch ich bin überzeugt, dass es genug Leute gibt, die ihre Interessen im Sinne des Miteinanders hintanstellen. Mit einer solchen App liefern wir die Daten ja nicht nach China oder an die CIA. Die Fragmentierung unserer Gesellschaft ist das grösste Hindernis, um wieder einmal etwas gemeinsam zu erreichen.

Sorgen muss Ihnen auch die Situation in Afrika bereiten, das Sie als ehemaliger Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts ausgezeichnet kennen.

In Afrika hat sich das Coronavirus nicht so schnell verbreitet wie in Wuhan oder in Europa. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Datenlage in Afrika viel schlechter ist als bei uns. So gab es in Tansania, das fast wie eine zweite Heimat für mich ist, schon in einer frühen Phase atypische Lungenerkrankungen, die im grossen Sumpf der grossen anderen Probleme dieses Landes untergegangen sind oder übersehen wurden. Zum anderen ist die Population in Afrika jünger als in westlichen Ländern und hat andere Muster bei begleitenden Krankheiten. Aber die Pandemie wird für alle armen Länder mit schwachen Gesundheitssystemen sehr schwierig.

Wie gehen die Länder mit den Problemen um?

Weil sich die Regierungen dieser Schwierigkeiten bewusst sind, haben Kenya, Südafrika und andere Länder recht früh einen Lockdown verordnet. Positiv ist, dass es dadurch bisher recht wenig Fälle von Covid-19 gab. Allerdings haben die Leute auch keine Immunität, womit es noch schwieriger wird als bei uns, den Lockdown wieder aufzuheben. Grundsätzlich sind die Probleme in Afrika schlimmer als bei uns. Die Staaten igeln sich ein und tauschen kaum Informationen aus. Wie in Indien gibt es auch in Afrika viele Wanderarbeiter, die mobil sind und das Virus verbreiten. In den Townships lassen sich die Hygiene- und Abstandsregeln nicht einhalten. Das alles bereitet mir Sorgen.

Marcel Tanner ist emeritierter Professor für Epidemiologie und medizinische Parasitologie an der Uni Basel. Er war von 1997 bis 2015 Direktor des Swiss Tropical und Public Health Institute in Basel. Tanner ist Präsident der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied der vom Bundesrat eingesetzten «Swiss National Covid-19 Science Task Force». In diesem Gespräch vertritt er seine persönliche Meinung und nicht die Haltung der Task-Force.

Christian Flierl

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